Naturwissenschaft und Religion. Die Versöhnung von Wissen und Weisheit by Ken Wilber

Naturwissenschaft und Religion. Die Versöhnung von Wissen und Weisheit by Ken Wilber

Autor:Ken Wilber [Wilber, Ken]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104007250
Herausgeber: Fischer e-books
veröffentlicht: 2015-09-13T16:00:00+00:00


Die Herrschaft des Es

Der entscheidende innere Mangel des Idealismus war also das Fehlen eines echten Yoga, und die erwähnte äußere Strömung in der modernen (und bald postmodernen) Welt, die zum Untergang der idealistischen Vision beitrug, war schlicht die anhaltende Verflachung des Kósmos.

Unter der Herrschaft der Es-Wissenschaft (die bald in ihre mächtigste Form als Systemwissenschaft überging, für die die Welt ein holistisches Gewebe miteinander verflochtener Es-heiten war) und in der Verbindung mit der Es-Industrialisierung (die allen menschlichen und intersubjektiven Austausch objektivierte und merkantilisierte) wurden »Ich« und »Wir« in kommerzielle »Es-heiten« verwandelt, die auf dem Markt gehandelt wurden. Unter dem Druck dieser beiden Kräfte wurden die linken und die inneren Dimensionen von den aggressiven rechtsseitigen Bereichen in kürzester Zeit kolonialisiert und versklavt. Die Wertsphären von Kunst, Moral und Spiritualität, von innerem Bewußtsein, Introspektion und Kontemplation, von Sinn, Wert und Tiefe – kurz, die Großen Drei – wurden brutal auf das Große Eine des materiellen Monismus verflacht.

Damit gelangen wir zur offiziellen Weltsicht des modernen Westens, nämlich dem Flachland-Holismus: Atome sind Teile von Molekülen, diese Teile von Zellen, diese Teile von Organismen, diese Teile von Gesellschaften von Organismen, diese Teile der Biopshäre, die schließlich Teil des allgemeinen Kosmos ist. Gewiß, die Elemente dieser Holarchie sind ja wahr, aber sie haben alle einen einfachen Ort, weshalb sie sämtlich ohne Ausnahme in einer Es-Sprache beschrieben und empirisch erkannt werden.

Dieser subtile Reduktionismus reduziert einfach jedes linksseitige Holon auf seine entsprechenden Aspekte auf der rechten Seite, wodurch die inneren Dimensionen ausgeweidet und auf empirische Es-Systeme reduziert werden. Gewiß, dieser rechtsseitige oder Flachland-Holismus ist ein wunderbar verwobenes und kohärentes System. Gewiß, er akzeptiert Holarchien, Systeme und vernetzte Prozesse, er spricht vom Gehirn, dem Organismus und großartig komplexen Ökosystemen, er sieht Beziehungen über Beziehungen in einem unendlichen Prozeß, die alle im wunderbaren Gewebe des Lebens vereinigt sind. Nur fehlt ihm leider, was man nicht reduzieren darf: echtes Bewußtsein, Gewahrsein, Intentionalität, Empfinden, Introspektion, Kontemplation, Intuition, Wert, Poesie, Sinn, Tiefe oder das Göttliche.

Aus der Entzauberung wurde damit eine Ausweidung. An diesem Flachland-Holismus des wissenschaftlichen Materialismus, den Romantik und Idealismus nicht aufhalten konnten, entzündeten sich die ersten spezifisch postmodernen Rebellionen im engeren Sinne des postmodernen Poststrukturalismus. Wenn sich die Wissenschaft hochnäsig weigert, ihren Platz innerhalb einer harmonischen Integration mit den beiden anderen, gleich wichtigen Wertsphären einzunehmen – nun, dann machen wir die Wissenschaft einfach nieder, dekonstruieren wir sie an ihrer Basis.

Nachdem der Goliath der Wissenschaft gefällt war, hatten David und seine Mitstreiter in Gestalt von Dichtern, Künstlern, Literaturtheoretikern, Denkern des »Neuen Paradigmas« und Visionären jeglicher Couleur endlich freie Bahn. Ja, jetzt mußte ein neues Zeitalter anbrechen.



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